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Àâòîð: Tymofiy Havryliv
Âèäàííÿ: Die PRESSE (Àâñòð³ÿ)

Die Krim als Heilsalbe für die russische Seel

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02.04.2014

Die Ukrainer wollen modern und europäisch sein – ganz einfach demokratisch. Nicht „gelenkt demokratisch“, nicht von Viktor Janukowitsch und schon gar nicht aus Moskau.

Von Tymofiy Havryliv (Die Presse)

Erleben wir gerade eine Neuauflage des Kalten Krieges? Für Wladimir Putin hat der Kalte Krieg nie geendet. Nach seiner Machtübernahme im Jahr 2000 ließ er Stalin glorifizieren, den Zerfall der Sowjetunion bezeichnete er als „größte Tragödie des 20.Jahrhunderts“ – nicht den Zweiten Weltkrieg, nicht den Holocaust, nicht den Tod von abermillionen Menschen, darunter Ukrainer und Russen. In russischen Schulbüchern ist wieder vom „Großen Vaterländischen Krieg“ die Rede. Die verlogenen sowjetischen Mythen dürfen in Putins Russland nicht angezweifelt werden.

Annexion – das Wort mag man im Kreml nicht. Vokabeln, die die Sachverhalte bei ihrem Namen nennen, taugen schlecht für Mythenbildungen. Man bittet die Weltgemeinschaft, auf derartige Wörter gefälligst zu verzichten. Der Mann bittet, der starke Mann Putin. Der soll ein Diktator sein? Bitte nicht schon wieder – Putin ist ein lupenreiner Demokrat. Das wird Ihnen Herr Schröder abermals bestätigen. Putin muss man verstehen und nicht kritisieren.





Sowjetische Mythen

Und die Untertanen? Sie dürfen sich freuen – und siehe da, der Spuk ist prompt vorbei: Misswirtschaft, Korruption, Alkoholismus. Die Krim als Heilsalbe. Es darf sogar öffentlich getanzt werden. Ein Ereignis des 21.Jahrhunderts, diese Krim-Annexion – pardon: die lang ersehnte Wiedervereinigung mit Russland. Weit über 90Prozent waren dafür, in einem Wahllokal sogar 123Prozent. Ach was, tote Seelen waren auch einmal Menschen. Blättern Sie nach bei Nikolai Gogol, dem großen Ukrainer der russischen Literatur. Und dass die meisten den Urnengang ignoriert haben, was macht das schon?

Ja, es gibt in Russland diejenigen, die nicht einverstanden sind. Allerdings nicht sehr viele. Umso größer der Respekt vor dem Mut dieser Menschen. Sie gehen auf die Straße. Sie bezeichnen eine Aggression als Aggression, halten Plakate für den Frieden und gegen den Krieg hoch. Alles Verräter?

Einer der Pfeiler dieser Mythologie handelt von der „ewigen brüderlichen Freundschaft zwischen dem russischen und dem ukrainischen Volk“. Grotesk. Nicht die Reformen, nicht die Modernisierung, nicht der Wohlstand, sondern altsowjetische Mythen halten Putins Russland zusammen. Keiner wird es mit so einem aufnehmen wollen. Georgien? Na eben – selber schuld. Die haben dort unten den „russischen Bären“ provoziert.

Die Ukrainer haben ihn nicht provoziert. Oder doch? Die Ukrainer wollen modern und europäisch sein. Ganz einfach – demokratisch. Nicht „gelenkt demokratisch“, nicht von einem Viktor Janukowitsch und aus Moskau schon gar nicht. Ist das nicht eine Frechheit?


Putin und Schewtschenko

Anfangs, als er noch nicht so selbstsicher wirkte, zitierte Putin sogar Taras Schewtschenko, den ukrainischen Nationaldichter. Damals behauptete Putin sogar, auch ukrainische Volkslieder singen zu können. Die seligen Zeiten sind vorbei. Jetzt genügt es, Ukrainisch zu sprechen, um von Putin als Nationalist und Terrorist abgestempelt zu werden.

Wie ist es überhaupt gekommen, dass diese Sprache, ukrainische Kultur, Buchdruck und Kunst noch am Leben sind? Waren es nicht russische Zaren und ihre Minister, die Ukrainisch mehrmals verboten haben? Man durfte in Ukrainisch weder sprechen noch publizieren. Ukrainisch durfte man höchstens tanzen.

Stalin hat aus dem ukrainischen Alphabet Buchstaben gestrichen und über 500 ukrainisch schreibende Schriftsteller ermorden lassen. Die von Stalin organisierte Hungersnot, die den Widerstand gegen die Zwangskollektivierung brechen sollte, hat den Osten der Ukraine in eine Wüste verwandelt, die dann von ethnischen Russen aus Russland besiedelt wurde. Währenddessen leben in Russland zwei Millionen Ukrainer. Was sie alles dürfen? Dasselbe, wie alle anderen Bürger Russlands – Putins Politik unterstützen. Natürlich nicht auf Ukrainisch, nur auf Russisch.



Der Westen in der Zange

Die Ukraine ist erst der Anfang. Selbst das ist falsch. Zuvor waren es die sogenannte Dnjestr-Republik, zwei Tschetschenien-Kriege und Georgien. Nicht zu vergessen die erstickten Selbstbestimmungsversuche vieler Regionen innerhalb der Russischen Föderation.

Bei der Krim wird es nicht bleiben. Im Augenblick wird am Frieden im Süden und im Osten der Ukraine stark gerüttelt. Polen, die baltischen Staaten und die Republik Moldau sind besorgt. Das übrige Europa zeigt sich zwar mit der Ukraine solidarisch, fühlt sich aber gut geborgen. Noch.

Putin ist bereits viel tiefer in den Westen vorgedrungen, als man sich vorstellen kann und will. Mit Gazprom ist nicht nur Gas, sondern auch eine Ideologie gekommen, die nichts mit der Demokratie zu tun hat. Mehr noch: Putin nimmt die Demokratie und den liberalen Geist in die Zange, indem er extreme europäische Linke und extreme Rechte für seine Politik erfolgreich instrumentalisiert hat. Während die österreichischen Rechtspopulisten Verständnis für Putins Vorgehen zeigen, ziehen links außen stehende Gruppen gegen „ukrainische Faschisten“ vor das österreichische Parlament.

Unterdessen spitzt sich die Lage auf der Krim zu. Bürgerrechtler registrieren eine täglich steigende Zahl von Menschenrechtsverletzungen. Menschen werden bedroht, entführt, eingeschüchtert. Viele sind bereits von der Krim geflohen. Männer werden aufgehalten, nur Frauen dürfen die Halbinsel verlassen. Viele verlieren ihren Job, weil sie keine ethnischen Russen sind oder einfach ukrainische Staatsbürger bleiben wollen. In den Schulen schlagen auf einmal ethnische Russen ethnische Ukrainer und Krimtataren. Gestern waren sie noch Freunde und kannten dieses Wort – ethnisch – gar nicht.

Der negierte Faktor Mensch

Es sind keine Gruselgeschichten. Es ist, wie man so schön sagt, Realpolitik. Die kennt den Faktor Mensch nicht – und nicht das menschliche Leid, obwohl sie ja immer im Namen der Menschen und ihrer Interessen handelt. Wie jetzt in der Ukraine, wo angeblich Russischsprechende verfolgt werden und – logischerweise – beschützt werden müssen.

Vielleicht ist alles viel einfacher. Ein kleines Kind in Wladimir Putin will ernst genommen werden – Menschen hin, Menschen her. Sind doch für Orson Welles alias Harry Lime die Menschen von der Höhe des Wiener Riesenrades aus gesehen nur winzige Insekten. Die berühmte Szene im Film „Der dritte Mann“! Und von der Höhe der Kreml-Herrschaft?

Endlich wird Putin ernst genommen, nur dass daran keiner so richtig Freude hat. Außer vielleicht er selbst. Vielleicht ist es viel einfacher, und der gute Mann Wladimir Putin will nur Janukowitsch, dem „legitimen“, vom Volk gestürzten Diktator, zurück in sein Amt verhelfen. Freunde lässt man eben nicht im Stich. Insbesondere solche nicht, die man an der kurzen Leine halten kann. Freunde, die „lupenrein“ sind und Putins Auffassung von Demokratie teilen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Tymofiy Havryliv (* 1971 in Iwano-Frankiwsk)
ist ein ukrainischer Schriftsteller, Blogger, Übersetzer, Literaturtheoretiker und Kolumnist.
Er debütierte als Lyriker und entdeckte für ukrainische
Leser die Werke von Raimund, Nestroy, Trakl, Bernhard u. a. Auf Deutsch erschien sein Roman
„Wo ist dein Haus, Odysseus?“ (Ammann Verlag, 2009). [ Privat ]
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2014)

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