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Àâòîð: HANS-PETER KUNISCH
Âèäàííÿ: Suddeutsche Zeitung

Gedichte über Straßen streuen

Gedichte über
Straßen streuen
Im Aufbruch: Das 20. Lemberger Literaturfestival




Als Jurij Andruchowytsch, dessen „o“ be- tont wird, am vergangenen Wochenende in Lviv, dem alten
Lemberg, auf der Bühne des schön heruntergekommenen „Ersten Ukrainischen Theaters für Kinder und
Ju- gendliche“ steht, ist um zwei Uhr nachts der Teufel los. Das Publikum im überfüll- ten Saal
verlangt Zugabe um Zugabe. Neun- zig Prozent der Leute sind unter dreißig und feiern mit dem
53-Jährigen einen der lebendigsten Klassiker der Gegenwartslite- ratur. Dabei haben sie schon fünf
Stunden Poesienacht hinter sich, mit Polen, Dänen, Schweden, Norwegern. Nach weiteren drei Stunden
wird es fünf Uhr morgens sein und kaum ruhiger. „Ich fürchte fast, wir ha- ben das beste Publikum
der Welt“, meint Taras Malkovich, selber Dichter aus der Ukraine, „aber ich habe keine Ahnung, war-
um.“

„Jag die Ölpipelines des Diktators aus Zentralasien in die Luft, zerschieß seinen Palast . . .“

Vielleicht liegt es daran, dass die ukraini- sche Literatur sich in den vergangenen zwei
Jahrzehnten neu erfinden musste. Ein kurzes Jahrhundert Sowjetunion hat viele Traditionslinien
gelöscht. Das wird in Lwiw zwar in Diskussionsrunden beklagt, aber die Frische, die daraus
erwächst, spürt man nicht nur bei dem auf Buchmes- se und Literaturfestival omnipräsenten An-
druchowytsch, der gerade Robert Walsers
„Spaziergang“ ins Ukrainische übersetzt hat und mit dem Duo Kappeler/ Zumthor
(Pianoforte/Schlagzeug), im Lemberger Konservatorium auch noch seine „Wer- wolf Sutra“, einen
schweizerisch-ukrai- nisch-deutschen Balladenabend, bestritt.
Einer der jungen Autoren ist Anton Kuschnir, 1984 in der Hauptstadt Kiew ge- boren. Er machte beim
20. Lemberger Lite- raturfestival mit seinem Roman „Urban Strike“ auf sich aufmerksam, der im
„Al- manach für neueste ukrainische und deut- sche Literatur“ vorgestellt wurde, mit dem das
Goethe-Institut und andere Einrich- tungen Übersetzungen fördern. Urban Strike ist eine ältere
Spielkonsole wie „De- sert Strike“ oder „Jungle Strike“: „Jag die Ölpipelines des Diktators aus
Zentralasien in die Luft, mach seine Bohrinseln platt, ret- te die Touristen vom kaputten
Kreuzfahrt- schiff, rette die amerikanischen Piloten, zerschieß den Palast des Diktators, schieß
das Flugzeug des Diktators ab, lass den Dik- tator nicht entkommen, erschieß den Dik- tator selbst,
lass dir vom Präsidenten ei- nen Orden verleihen.“ Grell überzeichnet zeigt Kuschnir, dessen Helden
aus Aben- teuerlust und Langeweile von Kiewer Hoch- häusern springen, bei hohem Tempo und
intensiver Sprache, wie der brave kalte Krieger Bond längst von direkterer Propa- ganda abgelöst
wurde.
Doch die neue Generation interessiert sich nicht nur für Computer. Fünfund- zwanzig junge Ukrainer
aus dem ganzen Land, die meisten kaum älter als fünfund- zwanzig, nehmen an einem mehrtägigen
Workshop für Literaturkritik teil, bei dem die einflussreiche polnische Kritikerin Jus- tyna
Sobolewska, der deutsche Übersetzer und Autor Olaf Kühl und weitere internationale Experten den Aufbau eines neuen lite-
rarischen Lebens begleiten. Das geschieht, über die Struktur der „bookplatform“ auch mit
EU-Hilfe. Aber der Literaturbe- trieb der Ukraine organisiert sich gerade schon selber neu. Das
Ausdünnen der Kul- turteile der Zeitungen „hat dazu geführt, dass sich Literaturkritik heute auf
websi- tes wie Litakzent, bookvoid, litgazeta ab- spielt“, sagt Tymofiy Havryliv, 1971 gebo- ren,
wie Andruchowytsch aus dem west- ukrainischen Iwano-Frankiwsk. Dabei ist Havryilv ein durchaus
traditioneller Autor, der ein schönes, trockenes Deutsch spricht, das man auch vor den Zweiten
Weltkrieg situieren könnte. Sein Roman
„Wo ist dein Haus, Odysseus?“ war eines der letzten Bücher des Ammann-Verlags.
Marion Poschmann kommt mit einem Literaturzug gerade vom kleinen Czerno- witzer Literaturfestival,
ihr neuer Roman
„Die Sonnenposition“ (Suhrkamp) steht auf der Shortlist des Deutschen Buchprei- ses. Sie hat „kein
gutes Gefühl beim Inter- net. Da geht Qualität oft unter“. Die Lyrike- rin Ann Cotten, 1982
geboren, ihr erster Er- zählungsband erscheint im Herbst eben- falls bei Suhrkamp, hält an einem
der Lem- berger Abende dagegen. „Gerade das zieht mich an. Ich würde meine Gedichte am liebsten
über die Straßen streuen, damit Leute, der sonst nichts damit zu tun haben, sie wie etwas
Natürliches, Unauffälliges fin- den. Ich meine, Gedichte sollen einfach sein, verstehbar. Bei der
jüngeren deut- schen Lyrik habe ich oft das Gefühl, dass die Leute nicht wissen, was sie wollen und
das verpacken, damit es geheimnisvoll wirkt.“ Poschmann, die selber Gedichte schreibt, denkt einen
Moment nach: „Das gibt es. Aber ich finde, dieses Diktat der Verständlichkeit schränkt sehr ein.
Wer nach etwas Neuem sucht, kann oft nicht al- les gut verpackt und auf den ersten Blick einsehbar
abliefern. Mir ist da oft zu wenig Interesse an Sprache dabei.“
Der Literaturbetrieb der Ukraine organisiert sich gerade neu

Vielleicht hat Lemberg selbst zu der klei- nen abendlichen Debatte auf der langen Terrasse des
hochkantgestellten Glasbe- tonbaus des altsozialistischen Hotels Dnjestr mit beigetragen. Das
Verwinkelte der mittelalterlichen und k.u. k.-Gründer- zeit-Straßen, die sich über sieben Hügel
ziehen, erschließt sich nicht einfach, die Karten an allen Ecken helfen nur wenig. An- dererseits
ist der alte Teil der 800 000-Ein- wohner-Stadt trotz EM 2012 noch immer nicht durchgehend frisch
gestrichen. Schmiedeeiserne Balkone, erlesene Stu- ckaturen und kleine, feine Quartiersplät- ze,
die an Paris erinnern, träumen noch tief verstaubt vor sich hin. Es lohnt sich, hier durch die
Straßen zu gehen.
Aber hat die gegenwärtig konservative Politik der Ukraine nicht schon versucht, auf das bunt
blühende Literaturfestival Einfluss zu nehmen? „Nein“, meint Festi- valleiter Krementschuk, der
selber wirkt wie ein Student, lächelnd. „Die interessiert nur, wie viel Geld wir wollen, und das
ge- ben sie uns möglichst spät. Damit ärgern sie uns ein bisschen. Das reicht.“

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